Die Bogenhauser Künstlerkapelle (1897–1939)
- eine vergessene Avantgarde der "Alten Musik
"

 
Die Bogenhauser Künstlerkapelle um 1930
 
Bogenhauser Künstlerkapelle, 2011
Die Bogenhauser Künstlerkapelle, um 1930.
Foto: Privatbesitz
Das ensemble arcimboldo in der Besetzung der Bogenhauser Künstlerkapelle,
2011. Foto: S. Drescher
 

Die Bogenhauser Künstlerkapelle mit ihrer um 1900 als "althistorisch" bezeichneten Besetzung von vier Blockflöten, Bogengitarre, Trumscheit und Pauken ist einzigartig in der Geschichte der Wiederbelebung „Alter Musik“ und ihrer Instrumente. Die "Bogenhauser" spielten nämlich nicht aus wissenschaftlichem und akademischem Interesse, sondern einzig aus Neugier und Spielfreude ihre damals so ungewöhnlichen Instrumente. Allerdings handelte es sich dabei um originale historische Instrumente von herausragender Qualität, die es den Spielern ermöglichten  – wie in den erhaltenen originalen Notenbüchern ersichtlich – bis an die Grenzen des spieltechnisch Machbaren zu gehen.
Begonnen hatte alles mit einer Sammlung von zahlreichen originalen Blockflöten, Querflöten, Oboen und Flageolets von so bedeutenden Instrumentenbauern wie Denner, Bressan und Oberlender in verschiedenen Stimmlagen, die sich seit den 1880er Jahren im Besitz der Künstlerfamilie Düll befanden. Diese Instrumenten-Sammlung wurde im Lauf der Zeit um zahlreiche originale Gitarren, Lauten und ein barockes Trumscheit erweitert.

Düll und Pezold am Ammersee um 1900Schon als Studenten der Münchner Kunstakademie waren Heinrich Düll (1867-1956) und sein Freund Georg Pezold (1865-1943) bei zahlreichen Künstler-Festen mit ihren Blockflöten aufgetreten. Nachdem 1894 die Familie Düll in eine Villa im Münchner Stadtteil Bogenhausen umgezogen war,  wird das Ensemble auf vier Blockflöten, Bogengitarre, Trumscheit und Pauken erweitert und nun "Bogenhauser Künstlerkapelle" genannt. Als künstlerischen Leiter konnte man den Hofmusiker Heinrich Scherrer (1865-1937) gewinnen. Scherrer war Querflötist an der Münchner königlichen Hofkapelle und begeisterter Lauten- und Gitarren-Spieler. Bei Aufführungen der Johannespassion von J.S. Bach in München übernahm er den Lautenpart, und auch die Gitarrenbegleitung des „Zupfgeigenhansel“ stammt von ihm. Bei den Bogenhausern übernahm er den Bassblockflöten-Part, erstellte die Arrangements und leitete die Proben. Sein Interesse für „Alte Musik“ führte dazu, dass bald in den Konzertprogrammen neben den bis dahin hauptsächlich gespielten Volksmusik-Stücken (z.B. aus den Sammlungen von Herzog Max in Bayern), Opernarrangements (z.B. Mozart „Cosi van Tutte“, Kallenbach „Der Schlaftrunk“) und Märschen (z.B. „York’scher Reitermarsch von L.v. Beethoven, Marschsammlungen von Friedrich Wilhelm III) auch Werke von Arcadelt, Bendusi und Neusidler auftauchten.

Friedensengel von Düll und PezoldIm Jahr 1899 wurde sowohl das von Düll und Pezold geschaffene Friedensengel-Denkmal in München eingeweiht, als auch das erste „offizielle“ Konzert der Bogenhauser bekanntgegeben. Diesem Kammermusik-Abend im „Bayerischen Hof“ folgen zahlreiche weitere Konzerte und auch mehrere, leider nicht erhaltene Rundfunkaufnahmen. Bei der ersten Aufführung des Actus Tragicus von J.S. Bach 1925 in München wurden die beiden Blockflöten nicht etwa von Berufsmusikern gespielt, sondern von den Bogenhausern Heinrich Düll und Georg Pezold. Auch ein Konzert der Bogenhauser zur Begrüßung des London Philharmonic Orchestra 1936 in München ist belegt. Die zahlreichen Auftritte in Verbindung mit den Rundfunkaufnahmen und den schon oben erwähnten hohen technischen Anforderungen im erhaltenen Notenmaterial belegen, wie wichtig der Beitrag der Bogenhauser Künstlerkapelle zur Wiederbelebung Alter Musik und ihrer Instrumente war.

Friedensengel-Denkmal in MünchenDer grosse Erfolg der Bogenhauser hängt vielleicht auch mit einem besonderen „Kunst-Klima“ in München um 1900 zusammen. So zog die von Prinzregent Luitpold stark geförderte Münchner Kunstakademie Künstler aus aller Welt an, auch wenn der „normale“ Münchner vielleicht wenig von den abstrakten Versuchen des zeitweise an der Akademie studierenden Wassily Kandinsky hielt, und die blauen Pferde eines Franz Marc noch nicht richtig wertschätzte, wie es in der Autobiografie von Oskar Maria Graf bildhaft beschrieben ist: „Ha, jetz do schaut’s ... A blau’s Roß macht der, a blau’s Roß! Der muaß ja faktisch farb’nblind sei, der Aff, der saudumme! Und so was hoast ma heutzutog Kunscht! Pfui Teifi!“
Auch die Gründung des ersten deutschsprachigen politischen Kabaretts „Die 11 Scharfrichter“ fällt in die Zeit um die Jahrhundertwende. Neben dem „Lautensänger“ Robert Kothe (einem Schüler Heinrich Scherrers, des ersten künstlerischen Leiters der Bogenhauser) steht dort der aus Schloss Lenzburg in der Schweiz nach München „zuagroaste“ Frank Wedekind auf der Bühne, um absurd komische Lieder vorzutragen wie z.B.: „Ich hab meine Tante geschlachtet“. Dieses spezielle Münchner Panoptikum bereichert auch der Sprach-Anarchist Karl Valentin mit seinen dadaistischen Auftritten.

Bogenhauser Künstlerkapelle als QuartettNeben der Aufführung von „Althistorischer“ Musik zeigte sich bei den Bogenhausern das Interesse am „besonderen“ vor allem in der instrumentalen Besetzung. Schon das Blockflötenquartett mit zwei Altflöten, Tenor und Bassflöte wäre ja zu dieser Zeit an sich schon skurril genug gewesen. Die Bogenhauser ergänzen dies noch durch eine seltene romantische Bogengitarre, ein als Bassersatz verwendetes barockes Trumscheit und zwei Pauken. Man wollte das „Besondere“. Das zeigt sich u.a. darin, dass statt einer normalen Gitarre eine Bogengitarre verwendet wird, und statt einem Kontrabass ein Trumscheit. Selbst als das originale Trumscheit der Beanspruchung nicht mehr standhält, bauen Düll und Pezold ein neues, statt es einfachheitshalber durch einen kleinen Kontrabass zu ersetzen. Man wollte „besonders“ bleiben.

1939 mit dem Beginn des zweiten Weltkrieges endet die Geschichte der Bogenhauser. Zum einen wegen des vorgerückten Alters der beiden Alt-„Schnabel“-Flötisten Düll und Pezold, die nun beide schon über 70 waren, vielleicht aber auch, weil die Zeit der Neugier und Offenheit in München erst einmal vorbei war. Das „Besondere“ war nun – wie auch in der bildenden Kunst – nicht mehr gefragt. 1944 wurde dann die Düll’sche Villa in Bogenhausen von Bomben getroffen, und so sämtliche Instrumente – ausser den bis heute erhaltenen Blockflöten, Querflöten, Flageolets und Oboen –  zerstört.

Musik und Instrumente der Bogenhauser Künstlerkapelle

Stimmbücher der Bogenhauser KünstlerkapelleDa neben dem prachtvollen Bestand an historischen Holzblasinstrumenten auch die originalen Stimmbücher der Bogenhauser Künstlerkapelle noch im Familienbesitz der Düll’schen Nachkommen erhalten sind, hat es sich das ensemble arcimboldo zum Ziel gesetzt, dieses einzigartige „Originalrepertoire“ in der Originalbesetzung von vier Blockflöten, Bogengitarre, Trumscheit und Pauken zu rekonstruieren. Kopien der Stimmbücher und zahlreicher Fotografien wurden dem ensemble arcimboldo von Dr. Martin Kirnbauer, dem Leiter des Musikmuseums Basel und Autor eines Artikels über die Bogenhauser Künstlerkapelle zur Verfügung gestellt.

Da die Stimmbücher teilweise mit zahlreichen Einlageblättern versehen sind, mussten zuerst alle Einzelblätter wieder den entsprechenden Stücken zugeordnet werden. Bei der Erstellung der Partituren, und der Rekonstruktion fehlender Stimmen (leider konnte das Gitarren-Stimmbuch trotz neuer Recherchen bisher nicht gefunden werden) stellten sich zahlreiche spieltechnische Fragen, die jedoch anhand der erhaltenen historischen Fotos gelöst werden konnten. Dies betraf zuerst die Frage der Besetzung der beiden obersten Blöckflöten-Stimmen, die in den Stimmbüchern im Violinschlüssel mit tiefstem Ton c1 notiert sind. Solch eine Notationsweise würde für zwei Sopran-Blockflöten auf c2 sprechen. Dagegen spricht aber, dass auf allen erhaltenen Fotografien die beiden höchsten Stimmen, die von Heinrich Düll und Georg Pezold gespielt wurden, Altflöten auf f’ sind. Dies würde bedeuten, dass die gesamte Musik eine Quarte höher (bzw. auf a’=440 Hz bezogen eine grosse Terz höher, da die verwendeten originalen Denner-Blockflöten einen Stimmton von a’=410 Hz haben) erklingt als notiert. Der einzige schriftliche Hinweis auf eine Transposition um eine grosse Terz ist  in der Paukenstimme erhalten („Pauken G und C, klingt H, E“).

Bogengitarre von SchenkIn den nur bruchstückhaft erhaltenen Gitarren-Noten findet sich kein Hinweis auf eine Transposition, allerdings liefern auch hier die erhaltenen Abbildungen einen wichtigen Hinweis. Auf mehreren Fotos der Bogenhauser spielt der Gitarrist auf einer seltenen Bogengitarre, die von Friedrich Schenk um 1847 in Wien gebaut wurde. Wahrscheinlich handelte sich dabei um eine Terzgitarre, die normalerweise eine kleine Terz höher eingestimmt war. (Ein baugleiches Instrument ist im Musikinstrumenten-Museum Berlin erhalten, welches für dieses Projekt von Jan Tulacek nachgebaut wurde.) Um die für die Bogenhauser notwendige Transposition um eine grosse Terz (auf a’=440 HZ bezogen) zu erreichen, musste eine Terzgitarre nur um einen Halbton nach oben gestimmt werden. Da der Gitarrist der Bogenhauser Herrmann Rensch auch zusammen mit dem Gitarrenvirtuosen Heinrich Albert im Münchner Gitarren- Quartett spielte, wäre es auch möglich, dass es sich bei der von Albert auf einem Foto von 1912 gehaltenen Schenk’schen Bogengitarre um das Instrument der Bogernhauser handelt.

Trumscheit der Bogenhauser KünstlerkapelleDas von den Bogenhausern verwendeten „Trumscheit“ ist – soweit dies anhand der Fotos zu erkennen ist – eine Tromba marina von Johann Ulrich Fischer, Landshut um 1720 wie sie u.a. im Bayerischen Nationalmuseum in München, und im Landshuter Stadt- und Kreismuseum erhalten sind. Da das originale Bogenhauser-Trumscheit der Beanspruchung nicht standhielt, wurde von den Bildhauern Düll und Pezold ein Nachbau angefertigt. Verwendet wird das Trumscheit von den Bogenhausern nicht  - wie in den süddeutschen Klöstern zur Barockzeit üblich – als Trompetenersatz, sondern als einsaitiges Bassinstrument. Dazu war, statt dem für eine Tromba marina gebräuchlichen Schnarrsteg,  ein zweiter etwas höherer Steg auf dem unteren Drittel der Decke notwendig. So rückte einerseits die Streichstelle in eine erreichbare Höhe, und  andererseits ermöglichte die so verkürzte Mensur den im Trumscheit-Stimmbuch geforderten Umfang von einer Oktave. Die hier von den Bogenhausern „neu erfundene“ Tromba marina-Spieltechnik wurde allerdings in München schon über 200 Jahre vorher, anlässlich der Festlichkeiten zur Taufe von Maximilian Emanuel von Wittelsbach, erstmals abgebildet.

Literatur zur Bogenhauser Künstlerkapelle:
Lola Lorme, „Bogenhauser Musik“ in: Das Welttheater, Zeitschrift der Münchner Volksbühne 2/4 (1928), S. 117-119.
Hermann Moeck, „Zur ›Nachgeschichte‹ und Renaissance der Blockflöte“, in: Tibia (1978), S. 13-20 und 79-88.
Phillip T. Young, „Some Further Insrtruments by the Denners“, in: The Galpin Society Journal 35 (1982), S. 78-85.
Martin Kirnbauer „‘Das war Pionierarbeit.’ – Die ‘Bogenhauser Künstlerkapelle’, ein frühes Ensemble Alter Musik“, in: Veronika Gutmann (Hg.), Alte Musik, Konzert und Rezeption,
Winterthur: Amadeus 1992, 37-67.

Neue Kompositionen

Um die Geschichte der Bogenhauser Künstlerkapelle und ihrer Musik, die von Spielfreude und Experimentierlust geprägt war, ins 21. Jahrhundert zu tragen, möchte das ensemble arcimboldo zwei Kompositionsauftrage an die Schweizer KomponistInnen Hans-Jürg Meier (*1964) und Abril Padilla (*1970) vergeben (siehe Lebensläufe).

Hans-Jürg Meier, Basel (*1964) – herbst / „abtasten“
Projektbeschreibung der Komposition für 4 Blockflöten, Gitarre, Trumscheit und Perkussion für das ensemble arcimboldo, Basel:

In der Zeit um 1900 fanden sich Künstler oft in Gruppen zusammen und beeinflussten sich gegenseitig stilistisch. Die Bogenhauser Künstler Heinrich Düll und Georg Pezold sind, was ihre Arbeiten in der bildenden Kunst anbelangt eindeutig dem ausklingenden Jugendstil zuzurechnen. Gleichzeitig bahnte sich aber in München in der von Marianne von Werefkin 1897 gegründeten Bruderschaft von Sankt Lukas („Kunst, Freundschaft und Sympathie“) eine folgenreiche Entwicklung an, aus welcher sich 1911 Der blaue Reiter herausschälen sollte. Dieser vereinigte während einer kurzen Zeit Künstler wie Wassily Kandinsky, Franz Marc, Marianne von Werefkin, Alexej von Jawlensky, August Macke, Arnold Schönberg und andere in einer Gruppe, deren Programm die neuesten malerischen Richtungen in Frankreich, Deutschland und Russland zusammenfasste und dabei auch die modernen musikalischen Bewegungen in Europa einbezog. Das Credo war, dass „jeder Mensch eine innere und eine äussere Erlebniswirklichkeit besitze, die durch die Kunst zusammengeführt werden sollte“ (Macke/Marc). Es ging um nichts weniger als die Aufhebung der Wirklichkeit. Bei Franz Marc mittels einer metaphysischen Tiersymbolik und bei Macke mit Farbphantasien, bei Kandinsky handelt es sich um eine mathematisch-musikalische Abstraktion und bei Paul Klee um eine märchenhafte Zauberwelt.
            Marianne von Werefkin (1860, Russland - 1938, Ascona) spielte hier eine zentrale Rolle als Vermittlerin und als Künstlerin. Sie stammt aus einer russischen Adelsfamilie, lebte ab 1896 in München und emigrierte nach Ausbruch des ersten Weltkrieges in die Schweiz. In Ascona gründete sie wiederum eine Künstlergruppe (Der grosse Bär) und starb dort 1938. Um 1907 aber liess sie sich beeinflussen von den Theorien von van Gogh, Henri de Toulouse-Lautrec und Paul Gaugin („Sich stets vor Augen halten: Ein Gemälde - bevor es für ein Schlachtross, eine nackte Frau oder irgendeine Anekdote dasteht - ist seinem Wesen nach eine ebene Fläche, bedeckt mit Farben, in einer bestimmten Anordnung aufeinander bezogen.“).

In der Komposition für das ensemble arcimboldo habe ich vor, das Gemälde Herbst, 1907 von Marianne von Werefkin „abzutasten“: gleichsam taktil wandere ich übers Bild („Zu sehen, wie auf einem Marmorblock das Licht seinen Halt sucht und der Schatten sich bewegt, ist eine Lusterfahrung, deren meine Augen nie müde wurden und die meine Hände mit Wonne vollendeten.“ „...wenn ich in den Ferien war, an den Stränden Kieselsteine sammelte und sie stundenlang in meiner Tasche behielt, wo meine Finger ihren Umriss erfühlten.“ So 1907-08 Felix Vallotton in: Das mörderische Leben). Selbstverständlich ist Musik etwas anderes als ein Gemälde, die musik-immanenten Gesetzmässigkeiten verlangen nach einer Übersetzung der abgetasteten Ergebnisse. Trotz der Verschiedenheit versuche ich die formale Anlage des Stückes möglichst eng an das Bild anzulehnen (Leserichtung des Bildes, oder gar mehrere gegenläufige Leserichtungen, Abfolgen von Dichtegraden, usw.). Linie als Melodie, Fläche als Akkord (oder eine in Grenzen gehaltene innere Bewegung) und Farbe als Harmonik (bzw. mikrotonale Tönung) sind die konkreten Ansatzpunkte für die Übersetzung. Aus meinem Interesse für Räume fasse ich die Bildräume gleichsam als architektonische Elemente auf, die Anlass für die Gestaltung der Tonräume bilden (Verwendung von Intervallen gemäss ihren charakteristischen Eigenheiten; Unterscheidung von Ort - Ton, Klangaggregat - und Raum - die Luft dazwischen, die Wahrnehmung und die Empfindung im Rezipienten).
            Wenn ich die Blockflöte dynamisch abgestuft verwenden will, dann begebe ich mich zwingend in das Gebiet von klangfarblichen Unterschieden, denn die Musiker müssen Variantgriffe verwenden, die grosse klangliche Differenzen aufweisen. Das Trumscheit siedle ich in der Tiefe an. Kandinsky 1926 im Buch Punkt und Linie zu Fläche: „Die Fläche selbst ist unten schwer, oben leicht, links wie „Ferne“, rechts wie „Haus“. Die Gitarre und die Perkussionsinstrumente schliesslich verwende ich autonomer, sozusagen den musikalisch lokalen Bedürfnissen unterworfen. Als Ganzes beziehe ich mich auf einen Ausspruch Franz Marcs, der in einem Brief vom 5. Februar 1911 schreibt: „Du musst Deine Komposition nicht von ‚Gegenständen’ herleiten, sondern von Farben, Flecken, festen Formen und Linien und aus denen das Gegenständliche herausentwickeln, das ist der ganze Witz.“

                                                   Hans-Jürg Meier, Mai 2010

 

Abril Padilla, Basel (*1970) – „radiophonie“ für Rundfunkempfänger und 7 Instrumente (4 Blockflöten, Gitarre, Trumscheit, Perkussion und Radio):

Obwohl es bekannt ist, dass die Bogenhauser Künstlerkapelle um 1930 in zahlreichen Rundfunk Sendungen aufgetreten sind, ist in den Archiven des Bayerischen Rundfunks leider keines dieser Tondokumente erhalten. Dies hat mich zu der Idee inspiriert, diese im Äther „verlorenen“ Sendungen fiktiv „zurückzuholen“.
            Die Tondokumente aus der Frühzeit des Radios bestehen für den heutigen Hörer fast zu gleichen Teilen aus Geräusch und musikalischem Material. Sofern nicht technisch nachgeholfen wird (z.B. durch Rauschunterdrückung), ist der Hörer gefordert selbst „Filter“ zu sein, um die beiden Wahrnehmungsebenen zu trennen.
           In meiner Komposition „radiophonie“ werden die Rollen vertauscht sein: Die 7 Musiker „spielen“ die Geräuschebene des Radios, das Radio (bzw. eine über den Originallautsprecher eines Rundfunkempfängers gespielte Tonband-Komposition) „spielt“ die „verlorenen“ (vorher mit dem ensemble arcimboldo aufgenommenen) „Bruch-Stücke“ der Bogenhauser und andere im Sender-Suchlauf gefundene historische Tondokumente aus verschiedenen Rundfunk-Archiven (wie z.B. Bayerischer Rundfunk, Radio France, BBC, Schweizer Radio Archiv).
            Die so entstehende Kammermusik-Tonband-Komposition integriert das Radio als gleichberechtigtes „Instrument“. Die Sendersuche, die „Syntonisation“ bestimmt die Auswahl des Tonmaterials, der dynamischen Variation und der Klang-Transformation. Die instrumentale Schreibweise bedient sich im Gegenzug elektroakustischer Transformationstechniken, durch extreme Registererweiterungen und den Einsatz von „geräuschintensiven“ zeitgenössischen Spieltechniken.              

Abril Padilla, Mai 2010

Konzertprogramm

Die Bogenhauser Künstlerkapelle (1897-1937)
- Eine vergessene Avantgarde der „Alten-Musik“

Frühstück in der Kunstakademie mit Prinzregent Luitpold von Bayern
Präsentir-Marsch   König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840), für vier Schnabelflöten, Guitarre, Trumscheit und Pauken
Menuetto Anonym, für vier Schnabelflöten, Guitarre, Trumscheit und Pauken
Ein Abend auf dem Priesberg Concert Ländler von Ludwig Skell („Lieblingsstück S.Kgl.H. Prinzregent Luitpold  von Bayern“) für vier Schnabelflöten, Guitarre, Trumscheit und „leise Kuhschellen-Begleitung“
König Ludwig II., Neuschwansteinrenaissance
Spinnlied aus der Oper „Der Schlaftrunk“ von G.E.G. Kallenbach (1765-1832) für vier Schnabelflöten, Guitarre und Trumscheit
„König-Ludwig-Lied“ Dramatische Ballade für Bassblockflöte, 2 Guitarren und Sprecher
Ave Maria von Jakob Arcadelt (1504-1568) für Schnabelflötenquartett
 
Herzog Max in Bayern, der „Zither Maxl“

Der Tanz „Wann i a Musi hör“ - Schnadahüfpln (s’Gambserl) - Spielhofalz

gesammelt von Herzog Max in Bayern (1808-1888), für vier Schnabelflöten, Guitarre und Trumscheit
Amalien Polka   von Herzog Max in Bayern für vier Schnabelflöten, Guitarre und Trumsch.
1899 Fertigstellung des Friedensengels und erstes Konzert der Bogenhauser
Polonaise     Ignaz Josef Pleyel (1757-1831), für vier Schnabelflöten, Guitarre, Trumscheit und Pauken
Rheinländer Anonym, für vier Schnabelflöten, Guitarre und Trumscheit
York’scher Reiter-Marsch L. van Beethoven (1770-1827), für vier Schnabelflöten, Guitarre, Trumscheit und Pauken
 
Heinrich Scherrer (1865-1937), Hofmusiker und „Zupfgeigenhansl“ (künstlerischer Leiter der Bogenhauser Künstlerkapelle und Bass-Blockflötist)
Marsch Anonym, bearbeitet von H. Scherrer für vier Schnabelflöten, Guitarre und Trumscheit
Scherrer-Ländler H. Scherrer (1865-1937), für vier Schnabelflöten, Guitarre und Trumscheit
„Der Ritter“ Märchen für zwei Guitarren, Bass-Schnabelflöte und Sprecher von H. Scherrer
La mala vecchia  aus: Francesco Bendusi, Opera Nova de Balli 1553, für vier Schnabelflöten
Recitativ und "Largo" aus dem Xerxes von G.F. Händel (1685-1759) für Mirliton, drei Schnabelflöten, Guitarre und Trumscheit
Abendvergnügen bei den 11 Scharfrichtern mit Frank Wedekind (1864-1918)
Trauermarsch von Frederic Chopin (1810-1849), für vier Schnabelflöten, Guitarre, Trumscheit und Pauken
„Ich hab’ meine Tante geschlachtet“ „Lautenlied“ von F. Wedekind für zwei Guitarren, Bass-Schnabelflöte und Stimme.
Chacone von Auguste Durand (1830-1909), für vier Schnabelflöten, Guitarre und Trumscheit
-- Pause -
Die Blauen Reiter (1914 gehen die Blauen Reiter Kandinskiy, Werefkin und Jawlensky in die Schweiz ins Exil, Marc und Macke sterben auf den Schlachtfeldern in Frankreich.)
Menuett „Arlésienne“ aus der Suite „L’Arlésienne“ von G. Bizet (1838 - 1875), für vier Schnabelflöten, Guitarre und Trumscheit
„Quand mon mari alloit à la guerre“ Altfranzösisches Kriegslied (Anon. Italian a. 1590) aus der Lautenmusik-Sammlung von O. Chilesotti für vier Schnabelflöten, Guitarre, und Pauken
„abtasten“ von Hans-Jürg Meier (*1964) für vier Blocklflöten, Gitarre, Trumscheit und Perkussion (Kompositionsauftrag des ensemble arcimboldo)
 
Joseph Wagner, Hofklarinettist, Pauken- und Triangelvirtuose der Bogenhauser
Petersburger Marsch (1837 von Kronprinz Wilhelm aus St. Petersburg mitgebracht) für vier Schnabelflöten, Guitarre, Trumscheit und Pauken
Menuetto von W.A. Mozart für vier Schnabelfl., Guitarre, Trumscheit und Pauken
Andante aus der Sinfonie Nr. 6, G-Dur „mit dem Paukenschlag“ von J. Haydn, für vier Schnabelflöten, Guitarre, Trumscheit und Pauken
Concert-Polka von Kästl für vier Schnabelflöten, Guitarre, Trumscheit, Pauken und Triangel
Karl Valentin (1882-1948), Dadaist und Sprach-Anarchist
Erchinger Jagd Marsch Anonym, für vier Schnabelflöten, Guitarre, Trumscheit und Pauken.
Tyrolienne Anonym, für drei Schnabelflöten, Guitarre, Trumscheit und Kuckuck
radiophonie Abril Padilla (*1970) für Rundfunkempfänger, vier Blockflöten, Gitarre, Trumscheit und Perkussion (Kompositionsauftrag des ensemble arcimboldo)
 
1944, Bomben auf Bogenhausen
Corrente aus Op. 5 Nr. 7 von Arcangelo Corelli (1653-1713), für vier Schnabelflöten, Guitarre und Trumscheit
Sonatina  aus dem Actus tragicus von J.S. Bach (1685-1750), für vier Schnabelflöten, Guitarre und Trumscheit
[Dauer: ca. 70 Min. reine Spielzeit]

ensemble arcimboldo, Basel
Leitung: Thilo Hirsch
Luis Beduschi – Altblockflöte
Andreas Böhlen – Altblockflöte
Hans-Christof Maier – Tenorblockflöte
Hans-Jürg Meier – Bassblockflöte
Josef Focht – Bogengitarre
Thilo Hirsch – Trumscheit
Markus Schmied – Pauken/Perkussion

Videomitschnitte des Konzerts vom 2.4.2011 im Naturhistorischen Museum Basel sind auf www.youtube.com veröffentlicht.

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